Ein Gespräch über Gegenwart und Zukunft von Headless Commerce
Headless Commerce in der Trend-Watch: Ist der „kopflose Ansatz“ die Zukunft der E-Commerce-Systeme? Oder ist die Branche einem kurzzeitigen Phänomen aufgesessen? Ein offener Dialog zwischen IT-Consultant Michael Giesen und IT-Projektmanager e-Commerce Knut Steiner.
Info: Der Begriff Headless steht für eine IT-Architektur, bei der die Schnittstelle im Vordergrund steht. Die Headless-Systeme sind Dreh- und Angelpunkt diverser Front- und Backend-Systeme, die zentral über die Schnittstelle (API) mit dem System kommunizieren und von diesem entkoppelt sind.
Michael Giesen, IT-Consultant
„Die Idee hinter Headless Commerce finde ich super“
Die Idee hinter Headless Commerce finde ich super. Wichtigste Aufgabe eines E-Commerce-Systems ist es, das Erlebnis des Endkunden in den Vordergrund zu stellen. Der Ansatz über eine zentrale Schnittstelle bietet enorme Vorteile in der Kundenkommunikation: Durch die autarke Entwicklung verschiedener Frontends gewinnen die Systeme deutlich an Flexibilität. Sie sind weniger starr und begrenzend als bisherige Systeme. Die verschiedenen Touchpoints sind dadurch deutlich individueller und kundenfreundlicher umsetzbar.
Knut Steiner, IT-Projektmanager e-Commerce
„Ich verfolge Headless Commerce mit Spannung“
Keine Frage, ich verfolge die Tendenz zu Headless Commerce auch mit Spannung. Aber ich teile deine Euphorie nicht uneingeschränkt. Die verschiedenen Anbindungen an Front- oder auch Backends zu anderen Systemen erhöhen auch den Aufwand in der Programmierung, Pflege und Wartung der jeweiligen Systeme. Die Total Costs of Ownership steigen.
Michael Giesen: Guter Punkt. Dafür sind die Frontends aber auch deutlich unabhängiger und flexibler. Das Thema Performance kann so zum Beispiel ganz anders behandelt werden. Ich sehe Headless Commerce auch als Entwicklung aus dem Bedürfnis der Kunden heraus. Immer mehr Devices und digitale Ansätze in unserem Leben erhöhen die Anzahl potenzieller Touchpoints in der Customer Journey. Das wirkt sich immens auf den Handel aus. Headless Commerce leistet dieser Entwicklung Folge. Dem Kunden ist die Technologie übrigens egal – für ihn zählt nur das Erlebnis.
Knut Steiner: Jein… für viele Unternehmen sind die theoretischen Möglichkeiten, die Headless Commerce bietet, noch überhaupt nicht greifbar. Entscheidend ist es, eine bewusste Bewertung der eigenen Situation durchzuführen, anstatt sich unüberlegt auf einen aktuellen Trend einzulassen. Welche Anforderungen hat mein Unternehmen, wie verhält sich meine Zielgruppe? In diesem Kontext sind auch die wirtschaftlichen Komponenten nicht zu vernachlässigen.
Michael Giesen: Aktuell ist der Kostenpunkt sicher noch ein großer Faktor. Dennoch geht es bei der Wahl der eigenen IT-Systeme ja auch um Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft. Unternehmen, die eine Vorreiter-Rolle im E-Commerce einnehmen (wollen), beschäftigen sich schon länger mit Headless Commerce. Durch Themen wie Voice Commerce, Internet of Things (IoT) etc. wird die Rolle solcher Systeme immer wichtiger.
Knut Steiner: Dennoch ist ein Umstieg auf Headless Commerce unter Umständen sehr aufwändig, wenn ein komplett neues System eingeführt werden muss. Ein technologischer Neuansatz bedeutet auch hohe Investitionskosten.
Michael Giesen: Hohe Investitionskosten entstehen aber ebenfalls bei großen, monolithischen All-in-One-Lösungen. Man muss sich die Frage stellen, wie flexibel eine solche Lösung ist – unter Umständen sind die Folgekosten höher als bei einem schlanken System. Möchte man sich nicht vollends für das eine oder andere System entscheiden, bieten Systeme wie zum Beispiel Shopware 6 eine Lösung an. Diese sind sowohl komplett nach dem API-Ansatz konzipiert, bieten aber dennoch vollständige Front- und Backend-Systeme bietet.
Knut Steiner: Im Grunde sind wir uns ja einig. Hinter Headless Commerce steckt ein riesiges Potenzial. Aktuell ist es meiner Meinung nach nur bei den Unternehmen einsetzbar, die sich bereits in der Vergangenheit mit den verschiedenen Touchpoints auseinandergesetzt haben und diese auch zum Einsatz bringen. Und das betrifft zurzeit eher die großen Player der verschiedenen Branchen. Mit fortschreitender Entwicklung werden sich Kosten verringern, die Implementierung wird einfacher. Es ist daher enorm wichtig für Unternehmen, die Entwicklung im Blick zu behalten und Wissen zu sammeln. Ist heute noch nicht der richtige Zeitpunkt, kann er morgen vielleicht schon gekommen sein.
Der Hype um Headless Commerce kommt nicht von ungefähr. Die Vorteile auf dem Papier sind bis dato unerreicht und eröffnen völlig neue Spielräume. Und die fortschreitende Digitalisierung wird diese auch zunehmend nutzbar machen. Der Start ins „kopflose Zeitalter“ eines Unternehmens ist aber unbedingt verknüpft mit dessen individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen. Wichtig ist es, ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen und die Entwicklung genau zu verfolgen.